Thorsten Frei: Glaubwürdigkeit ist die Grundvoraussetzung dafür, dass wir eine starke Rolle übernehmen können
Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat in Brüssel und zum NATO-Gipfel in Brüssel
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Ich glaube, diese Debatte hat sehr deutlich gemacht, dass wir wahrscheinlich selten einen Europäischen Rat und einen NATO-Gipfel hatten, bei denen wir mit den Problemen, die von außen auf unser Land und Europa insgesamt einwirken, so sehr im Auge des Tornados standen, wie es heute der Fall ist. Es ist in der Tat so, dass es mannigfaltige Herausforderungen sind, zu denen wir heute konstatieren müssen, dass wir noch keine wirklich guten und überzeugenden Lösungen haben.
Wenn ich anknüpfen darf an den Kollegen Hardt: Es ist der Krisenbogen rund um Europa, von Nordafrika über den Nahen und Mittleren Osten bis nach Osteuropa. Es sind die wirtschafts- und handelspolitischen Konflikte, die natürlich eine Exportnation wie Deutschland in ganz besonderem Maße treffen. Es sind die Migrationsherausforderungen, die uns in der Tat herausfordern. Auf dem afrikanischen Kontinent wird sich die Bevölkerung bis zur Mitte des Jahrhunderts verdoppelt und bis zum Ende des Jahrhunderts vervierfacht haben. Die Migrationszahlen des UNHCR zeigen: 68,5 Millionen Menschen sind schon heute weltweit vor Krieg und Verfolgung auf der Flucht. Das sind 3 Millionen mehr als im letzten Jahr. Das ist die höchste Steigerung, die jemals gemessen wurde. Hier reden wir nur über diejenigen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen. Wir reden noch nicht über diejenigen, die als Wirtschaftsmigranten unterwegs sind. Wenn man das alles in Rechnung stellt, dann wird, glaube ich, deutlich, dass wir auf allen Ebenen angreifen müssen, dass wir global mit den Herausforderungen umgehen müssen. Wir haben beispielsweise über den Global Compact for Migration diskutiert. Wir brauchen europäische Lösungen und müssen nationale Maßnahmen dort nachschärfen, wo sich herausgestellt hat, dass wir noch nicht gut genug sind.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Vor diesem Hintergrund ist es in der Tat wichtig, dass wir die großen Herausforderungen europäisch annehmen und angehen und dass wir die entsprechenden Voraussetzungen dafür schaffen. Das bedeutet im Hinblick auf den Europäischen Rat, dass man sehr genau unterscheidet, wo es Themen gibt, die wir national nicht mehr bzw. nicht angemessen lösen können. Da müssen wir – weil es einen europäischen Mehrwert gibt – stärker zusammenarbeiten. Das sind Fragen der Migrationspolitik sowie der Außen- und Verteidigungspolitik. Das sind des Weiteren Fragen des Grenzschutzes und der Terrorismusbekämpfung. Wir müssen genauso schauen, wo das nicht der Fall ist, wo wir durch Subsidiarität bessere Lösungen entweder nationalstaatlich oder auf regionaler bzw. kommunaler Ebene erreichen. Ich glaube, dass diese Unterscheidung ganz wesentlich dafür ist, ob wir die Akzeptanz für Europa weiter erhalten, ausbauen und stärken können oder ob uns das nicht gelingen wird. Vor diesem Hintergrund ist es richtig, dass wir uns in den kommenden zwei Tagen auf europäischer Ebene auf die Themen im Bereich der Migration konzentrieren, bei denen wir Übereinstimmung und Ergebnisse erzielen können. Nicht Schlepper dürfen darüber entscheiden, wer nach Europa kommt, sondern gewählte Regierungen müssen das tun. Dafür muss man Voraussetzungen schaffen. Daraus ergeben sich dann die weiteren Handlungsnotwendigkeiten.
Ja, es ist richtig: Wenn man in einem eng integrierten Europa zusammenlebt, wenn viele europäische Staaten eine gemeinsame Währung haben, dann brauchen wir auch Konvergenz. Das ist vollkommen richtig. Ich habe aber an manchen Stellen den Eindruck, dass es uns nicht an Konvergenz mangelt, sondern dass wir zu wenig auf Eigenverantwortlichkeit, Subsidiarität und Einhaltung von Verträgen setzen; das ist wichtig. Wir brauchen aber auch den Wettbewerb untereinander, damit wir uns am Ende – genauso wie es die Bundeskanzlerin formuliert hat – nicht am Durchschnitt orientieren, sondern an der Spitze in der Welt. Das muss der Maßstab für Deutschland und Europa sein.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Lassen Sie mich noch eines sagen: Wir haben auch über den NATO-Gipfel diskutiert und darüber, dass viele Probleme, mit denen wir heute konfrontiert sind, letztlich darin begründet sind, dass ein Multilateralismus, der geordnet ist und auf der Stärke des Rechts und nicht auf dem Recht des Stärkeren basiert, an vielen Stellen in Gefahr ist. Deshalb müssen wir als Europäer und Deutsche eine stärkere, auch eine glaubwürdigere Rolle einnehmen. Wenn wir auf Multilateralismus, auf die Einhaltung von Verträgen setzen, dann sind wir auch an das gebunden, wozu wir uns im Sommer 2014 im Rahmen der NATO verpflichtet haben. Wir können Schritte hin zum 2‑Prozent-Ziel gehen. Vereinbart sind 2 Prozent des Bruttoinlandsprodukts bis 2024.
Wir sollten diese Schritte glaubwürdig gehen. Unsere Partner sollten sich auf uns verlassen können. Nur dann sind wir auch glaubwürdig, wenn es kritisch wird in der Welt. Glaubwürdigkeit ist die Grundvoraussetzung dafür, dass wir für unser Land, aber auch für unseren Kontinent eine starke Rolle übernehmen können.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU)