Ralph Brinkhaus: Europa ist an erster Stelle ein Friedensprojekt
Rede zur Regierungserklärung durch die Bundeskanzlerin zum Europäischen Rat und zum ASEM-Gipfel
Wenn ich mir meine Vorredner so anhöre, dann wünsche ich mir, dass wir uns hin und wieder auch einmal die Zeit nehmen, uns über das Glück, dass wir dieses Europa haben, zu freuen, anstatt uns immer nur die Sorgen zu erzählen.
(Zurufe von der AfD: Oh!)
– Ja, rufen Sie ruhig „Oh“. – Ich kann Ihnen eines sagen: Wir werden in den nächsten Wochen den 100. Jahrestag des Endes des Ersten Weltkrieges begehen, der Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts, dem der Zweite Weltkrieg gefolgt ist und in dem keine Familie in Mittel-, Ost- und Westeuropa nicht mindestens einen Angehörigen verloren hat. Dass das nicht wieder passiert, ist das Verdienst dieses großen Friedensprojektes Europa.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie des Abg. Thomas Lutze [DIE LINKE])
Deswegen werde ich, soweit es sich irgendwie anbietet, jede meiner Reden zu Europa damit eröffnen, dass Europa an erster Stelle ein Friedensprojekt ist, an zweiter Stelle ein Friedensprojekt ist und an dritter Stelle ein Friedensprojekt ist und dass wir uns gar nicht oft genug sagen können, wie wichtig das ist, anstatt uns hier bei allen Sorgen und Nöten, die es tatsächlich gibt, gegenseitig zu beweinen.
Meine Damen und Herren, Europa ist aber nicht nur ein Friedensprojekt. Europa ist auch das größte und erfolgreichste wirtschaftspolitische Projekt, das wir je zustande gebracht haben, und dabei spreche ich nicht nur vom Binnenmarkt. Wir können uns darüber streiten, ob 17, 18, 19 oder 20 Prozent unserer Arbeitsplätze dranhängen. Wir wissen aber eines: Ohne diesen Binnenmarkt würden Menschen ohne Arbeit dastehen, würden Hallen leer stehen und hätten wir auch nicht die Steuereinnahmen und den Wohlstand, womit wir uns viele Dinge leisten können, die uns allen hier in diesem Haus wichtig sind.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)
Liebe Kolleginnen und Kollegen, Europa ist im wirtschaftlichen Bereich nicht nur ein Binnenmarktprojekt. Wir sind die größte Handelsmacht der Welt. Wie wichtig das ist, haben wir gerade in den letzten Wochen und Monaten gesehen. Es wäre sonst gar nicht möglich, dass sich alle asiatischen Regierungschefs mit Deutschland alleine treffen. Wie dringend notwendig das ist, sehen wir doch angesichts der expansiven – einige sagen: aggressiven – Politik von China. Hier müssen wir als Europäer doch zusammen dagegenhalten.
Die Bundeskanzlerin hat es gerade angesprochen: Wir schließen ein Freihandelsabkommen mit Singapur ab. Ich kann für meine Fraktion nur eines sagen: Wir lieben gutgemachte Freihandelsabkommen und werden uns dafür einsetzen, dass diese Freihandelsabkommen zusammen mit unseren europäischen Freunden weiter abgeschlossen werden,
(Beifall bei der CDU/CSU sowie der Abg. Ulla Schmidt [Aachen] [SPD])
weil das der Weg ist, wie wir den Wohlstand in Deutschland sichern.
Wir werden natürlich die Wirtschafts- und Währungsunion weiterentwickeln, aber wir nehmen uns auch die Freiheit, den einen oder anderen Vorschlag aus Brüssel oder Frankreich zu kritisieren; denn wenn wir ein gutes Europa wollen, dann müssen wir uns konstruktiv-kritisch damit auseinandersetzen und dürfen nicht alles mitmachen, was vorgeschlagen wird, weil zumindest aus unserer Sicht auch in der Vergangenheit nicht alles vernünftig und richtig war. Als deutsches, als nationales Parlament ist es unsere Aufgabe, darauf zu achten.
Europa ist aber auch – das haben wir ebenfalls in den letzten Jahren gelernt – ein Projekt, das eine gemeinsame Lösungsplattform für uns alle bietet, eine Lösungsplattform für Probleme, die wir nicht alleine lösen können. Das sind Großforschungsprojekte, der Klimaschutz und der Umweltschutz. Das lässt sich nicht an nationalen Grenzen aufhalten.
Es gibt zwei wichtige Themen, die wir auf dem bevorstehenden Gipfel besprechen werden. Das eine Thema ist die Migration. Es ist doch völlig klar, dass eine Strategie zur Vermeidung von Flucht- und Migrationsursachen nicht alleine von Deutschland verfolgt werden kann. Das müssen wir zusammen in Europa machen. Es ist doch völlig klar, dass der Schutz unserer Außengrenzen gemeinsam von allen europäischen Staaten organisiert werden muss. Es ist doch völlig klar, dass die gerechte Verteilung der Lasten durch Flucht und Vertreibung nur europäisch organisiert werden kann.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Nun kann man sagen: Das alles dauert so lange; Fortschritte werden nicht schnell genug erzielt. – Eine kleine Rückblende, 104 Jahre zurück, 1914: Wie froh wäre man damals gewesen, wenn kleine Fortschritte hätten gemacht werden können! Wie froh wäre man gewesen, wenn man ein Forum, wie wir es in Brüssel haben, gehabt hätte, bei dem sich 26, 27 bzw. 28 Staats- und Regierungschefs darauf einigen, dass man lieber langsam etwas zusammen macht, als dass man etwas gegeneinander macht.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)
Vor diesem Hintergrund bleibe ich dabei: Trotz all der Probleme, die wir haben, ist Europa ein großartiges Friedensprojekt, ein großartiges Wirtschaftsprojekt und ein großartiges Problemlösungsprojekt. Es ist unsere Aufgabe, dieses Europa nicht zu bekämpfen, es nicht kleinzumachen, sondern es jeden Tag in sehr kleinteiliger Arbeit zu verbessern.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)
Natürlich läuft nicht alles gut. Über ein anderes Thema werden wir auf dem bevorstehenden Gipfel ebenfalls reden. Das ist der Brexit. Das war für uns eine schmerzhafte Entscheidung der Briten. Natürlich müssen wir uns täglich fragen: Wie konnte es dazu kommen? Was haben wir falsch gemacht, und was können wir besser machen, damit so etwas nicht noch einmal passiert? Aber eines ist auch richtig: Wir müssen und werden die Entscheidung des britischen Volkes respektieren.
(Fabian Jacobi [AfD]: Auch!)
Das ist jetzt so. Auch wenn es am Ende nur Verlierer gibt, müssen wir jetzt das Beste daraus machen.
Wie machen wir das? Dazu fünf Punkte: Der erste Punkt. Wir sollten dabei fair bleiben. Wir haben den Briten hier in Deutschland sehr viel zu verdanken. Die Briten waren in den meisten Fällen ein sehr verlässlicher Partner und haben meistens an unserer Seite des Verhandlungstisches in Brüssel gesessen. Deshalb werden wir weiterhin eine Verhandlung unter Freunden führen.
(Beifall bei der CDU/CSU)
Der zweite Punkt. Es ist natürlich besser, wenn wir einen Konsens erzielen. Wir werden hart daran arbeiten, einen Konsens herzustellen.
Der dritte Punkt. Es wird keinen Konsens um jeden Preis geben. Das wurde hier schon mehrfach gesagt – auch von Herrn Lindner –: Wir können nicht zulassen, dass es einen Rabatt oder eine Rosinenpickerei gibt. Das geht nicht. Wer die europäischen Vorteile genießt, muss auch die europäischen Lasten tragen; das ist überhaupt keine Frage. Wir sind auch ziemlich kompromisslos bei unseren Grundfreiheiten. Auch das ist überhaupt keine Frage.
Wir müssen immer – das ist der vierte Punkt – an unsere Verantwortung gegenüber Nordirland denken. In Nordirland gibt es eine mehr als hundertjährige Geschichte von Gewalt, Tod und Terror. Diese ist durch das Karfreitagsabkommen beendet worden. Wir müssen ganz genau aufpassen, dass die Brexit-Verträge nicht dazu führen, dass diese Geschichte wiederauflebt. Hier haben wir eine große Verantwortung. Ich bin froh, dass alle Redner das so erwähnt haben. Damit werden wir sehr achtsam und vorsichtig umgehen.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP und der Abg. Dr. Franziska Brantner [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])
Der fünfte Punkt. Es gibt ein Leben nach dem Brexit, auch ein Zusammenleben mit dem Vereinigten Königreich. Wir arbeiten in vielen Projekten in den Bereichen Bildung und Forschung, aber auch bei der Verteidigung zusammen. Frau von der Leyen, ich bin sehr froh, dass Sie zusammen mit Ihrem britischen Kollegen gerade in den letzten Wochen bewusst das Zeichen gesetzt haben, dass die beiden Armeen weiterhin gemeinsam in Deutschland üben und zusammenarbeiten. Ich teile Ihre Vorstellung, Herr Lindner – auch wenn das momentan unrealistisch erscheint –: Die Tür zur Europäischen Union muss für das Vereinigte Königreich offen bleiben.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP)
Nun sollten wir vielleicht noch ein bisschen über unsere Rolle im Gipfelkonzert der europäischen Politik reden. Ich habe manchmal das Gefühl – das sage ich ganz selbstkritisch –, dass wir in zwei Paralleluniversen leben: Da gibt es Brüssel; hier gibt es den Deutschen Bundestag als nationalen Gesetzgeber. – Das ist nicht so vorgesehen. Wir haben durch den Vertrag von Lissabon, durch das Grundgesetz und auch durch die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Deutscher Bundestag ziemlich viele Pflichten und Rechte. Diese sollten wir mehr nutzen.
Wir haben die Pflicht, unsere Regierung im Rat zu kontrollieren. Wir haben das Recht zur Stellungnahme und zur Mitwirkung an europäischen Rechtsetzungsprozessen. Wir haben das Instrument der Subsidiaritätsrüge,
(Zurufe von der AfD: Das funktioniert ja nicht! – Wann wird es denn angewendet?)
das wir wohl gar nicht so oft nutzen, wie wir es vielleicht nutzen könnten. Und wir haben natürlich die Souveränität über den Haushalt. Die haben wir allerdings weidlich genutzt und auch richtig genutzt.
Ich kann uns alle nur dazu ermuntern und aufrufen, dass wir uns als nationales Parlament nicht als die anderen begreifen, sondern dass wir uns als integralen Inhalt und Bestandteil des europäischen Rechtsetzungsprozesses begreifen und dass wir deswegen noch viel öfter über Europa reden, als wir das derzeit tun.
(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD)
Zum Schluss möchte ich drei Wünsche äußern.
Erster Wunsch: Ich wünsche mir, dass wir Europa nicht immer nur auf die Finanzfragen reduzieren und uns nicht darauf beschränken, uns neue Töpfe zu überlegen, mit denen wir noch einmal Geld verteilen können. Obwohl das so einfach ist, sollten wir dieser süßen Versuchung widerstehen und uns mehr den Sachfragen zuwenden, die wirklich wichtig sind – Migration, äußere und innere Sicherheit, gemeinsame Forschung, gemeinsame Bildung, Erasmus und viele andere Sachen. Dadurch würden wir die Akzeptanz von Europa nachhaltig steigern. Es ist allemal besser, Lösungen zu finden, als Probleme mit Geld zuzuschütten.
(Beifall bei der CDU/CSU – Christian Lindner [FDP]: Richtet sich das an Frau Merkel oder Herrn Scholz?)
Zweiter Wunsch: Ich wünsche mir, dass die Geschichte von Europa zukünftig nicht mehr von Politikern, Beamten, Journalisten oder Wissenschaftlern erzählt wird,
(Filiz Polat [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN]: Weihnachten!)
sondern dass sie emotional von denjenigen erzählt wird, die Europa groß gemacht haben und die von Europa profitiert haben. Es geht – ich habe das hier schon einmal gesagt – um meinen deutschen Studienfreund, der im Erasmus-Programm seine schwedische Frau kennengelernt hat und heute eine europäische vielsprachige Familie hat, die in ganz Europa lebt. Es geht um den estnischen Softwareingenieur, der durch die Förderung der Europäischen Union ein Start-up in Tallinn nun aufbauen konnte und im Gegensatz zu seinen Eltern und Großeltern Zukunft hat. Es geht auch um die alte Frau, die ich auf Vertriebenen-Veranstaltungen gesehen habe, die von den Schrecken ihrer Kindheit und ihrer Jugend, von Gewalt, Flucht und Vertreibung gezeichnet ist und uns erzählen kann, dass wir durch diese Europäische Union seit 70 Jahren in Frieden leben, meine Damen und Herren.
Dritter Wunsch: In den 50er-Jahren sind europäische Staatsmänner – der Italiener de Gasperi und die Franzosen Monnet und Schuman – in einer ganz schwierigen Situation, obwohl sie überhaupt keinen Grund dazu gehabt haben und obwohl es viel Widerstand in der eigenen Bevölkerung gab, auf Konrad Adenauer zugegangen und haben gesagt: Wir müssen in Europa gemeinsam etwas machen. Wir machen das trotzdem.
Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich wünsche mir, dass wir heute den Mut haben – trotz aller vorhandenen Schwierigkeiten sind wir hinsichtlich Europa in einer viel einfacheren Situation als Schuman, Monnet, de Gasperi und Adenauer –, auch zu sagen: Wir machen es trotzdem.
Danke schön.
(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD)