"Unser Land braucht eine stabile Regierung"
Volker Kauder im Interview mit der Welt am Sonntag
Volker Kauder im Gespräch mit der Welt am Sonntag.
Welt am Sonntag: Herr Kauder, der Historiker Heinrich August Winkler warnt aus staatspolitischen Gründen vor einer Neuauflage der großen Koalition. In einer weiteren große Koalition würden sich beide Parteien auch weiter schwächen. Teilen Sie diese Bedenken?
Volker Kauder: Union und SPD haben eine Pflicht, hinter der alle anderen Überlegungen zurücktreten müssen: Unser Land braucht eine stabile Regierung. Vor uns liegen große Aufgaben, die nur eine Regierung auf einem festen Fundament bewältigen kann. Schauen Sie auf Europa. Die EU muss gestärkt werden. Das geht nur, wenn auch die deutsche Regierung stark ist. Die Welt ist voller Krisen – im Nahen Osten, in Afrika oder der Konflikt um Nordkorea. Auf all das müssen Deutschland und Europa eine Antwort finden. Ich bin froh, dass die SPD-Spitze sich nun bewegt und von ihrem „Nein“ zu Gesprächen abgerückt ist. Natürlich ist eines klar: Sollte es zu einer weiteren großen Koalition kommen, dann darf es ein „Weiter so“ nicht geben.
Fürchten Sie bei einer Neuauflage der großen Koalition nicht, dass die AfD noch stärker wird?
Kauder: Ursache für das Entstehen dieser Partei ist nicht die große Koalition. Anlass waren eher die Euro-Krise und die Flüchtlingsbewegung. Die große Koalition hat von 2005 bis 2009 und auch in den vergangenen vier Jahren viel geleistet. Nun heißt es, das Land im Sinne der Bürger zu modernisieren.
Groß geworden ist die AfD aber in der großen Koalition – oder nicht?
Kauder: Es gibt dafür viele Ursachen, vor allem aber das Flüchtlingsthema.
Wenn das stimmte, dann würde die AfD nur für einige Zeit existieren.
Kauder: Es ist natürlich nicht gesagt, dass eine Partei, die vor allem wegen eines Themas erstarkt ist, auch wieder verschwindet, wenn das Problem gelöst ist. Dass das aber eintreten kann, hat man bei den Republikanern in den 90er-Jahren gesehen. Sie hatten zunächst von der damaligen Asyldebatte profitiert. Als das Asylrecht verändert wurde, verschwanden sie von der Bildfläche. Auch heute arbeitet die Union daran, eine Reduzierung des Flüchtlingszuzugs umzusetzen. Wir müssen aber auch sehen, dass sich zurzeit viele Menschen sozial zurückgesetzt fühlen. Im Wahlkampf haben wir Politiker oft den Satz gehört: „Für die Flüchtlinge tut ihr alles, für uns nichts!“ Diese Aussage ist so pauschal nicht richtig, kann aber auch nicht einfach abgetan werden. Wir müssen daher soziale Themen wie erschwingliche Wohnungen verstärkt aufgreifen. Auch das wäre eine Aufgabe der neuen Koalition bei der Modernisierung des Landes.
Was heißt das konkret?
Kauder: Deutschland muss auf breiter Ebene besser und moderner werden, damit wir unseren Wohlstand in Zukunft wahren und möglichst sogar verbreitern können. Unsere Gesellschaft muss fit für die Digitalisierung gemacht werden. Deutschland muss wieder Lust am Neuen haben. Wir müssen viel mehr Geld als bisher in die Infrastruktur investieren: in Straßen, in Schienen, ins schnelle Internet. Die Modernisierung unseres Landes mit den Menschen und für die Menschen muss unser Großprojekt werden. Wir brauchen ein Planungsbeschleunigungsgesetz und den Abbau der Bürokratie. Es kann nicht sein, dass es bis zu zehn Jahren dauert, ehe eine Straße gebaut werden kann.
Die AfD ist eine Partei der Antimodernisierer. Ist das für Sie kein Dilemma, dass diese Modernisierung am Ende der AfD stärkt?
Kauder: Die Modernisierung wird unter dem Strich Arbeitsplätze schaffen. Die Digitalisierung wird die Lebens- und Arbeitswelt eines jeden Einzelnen grundlegend verändern, aber nicht automatisch verschlechtern. Das müssen Politik, Unternehmen und Gewerkschaften immer wieder vermitteln. Wenn wir uns der Modernisierung verweigern, würde Deutschland viel mehr verlieren als gewinnen. Wir müssen das Neue annehmen und gestalten. Die Modernisierung wird sich bei uns dabei in einer sozialen Marktwirtschaft vollziehen, die den einzelnen nicht zurücklässt. Das muss auch ein großes Thema für die Sozialpartner sein – also für die Unternehmer und für die Gewerkschaften.
Sie sagten, in einer neuen großen Koalition dürfe es kein „Weiter so“ geben. Was müsste beim nächsten Mal auf alle Fälle vermieden werden?
Kauder: Wir sollten uns lieber die Frage stellen, was muss unbedingt gemacht werden. Das beginnt mit der Digitalisierung der Schulen.
Ohne die Länder kriegen Sie in der Bildung doch kaum etwas Entscheidendes auf die Reihe.
Kauder: Die Bildungshoheit wird von den Ländern überwiegend hartnäckig verteidigt. Aber es gibt viele Möglichkeiten der Kooperation zwischen Bund und Ländern. Wir könnten mit den Ländern vereinbaren, dass wir Geld für bestimmte Programme geben, die dann in den Schulen umgesetzt werden.
Digitalisierung aber ist ja kein einmaliges Projekt. Schon allein die Hardware müsste wahrscheinlich alle drei Jahre erneuert werden. Warum sträuben Sie sich so sehr, das Grundgesetz an dieser Stelle zu ändern?
Kauder: Weil dazu eine Zweidrittelmehrheit auch im Bundesrat nötig ist, die wir nie zusammenbekommen. Im Übrigen geht es doch nicht in erster Linie um die Hardware! Es geht um einen Bildungspakt. Wir wollen eine Bildungscloud zur Verfügung stellen, aus der Bildungsinhalte für Schulen heruntergeladen werden können, damit sie nicht von Amazon und Google bezogen werden müssen. Wir wollen die Schulen ans Netz bringen. Es geht um die Weiterbildung der Lehrer. Darüber hinaus wollen wir Forschung und Entwicklung in den Betrieben steuerlich fördern.
Gehört zur Modernisierung auch die Einführung einer Bürgerversicherung?
Kauder: Was daran modern sein soll, weiß ich nicht. Wir haben unter dem Strich ein gutes Gesundheitssystem. Die gesetzliche und private Versicherung ergänzen sich. Der Wettbewerb zwischen beiden Systemen ist von Vorteil für die Bürger. Gerade weil es Privatversicherungen gibt, können sich in manchen ländlichen Räumen Arztpraxen halten.
Also: Mit Ihnen ist die Bürgerversicherung nicht drin?
Kauder: Die SPD als solche hat ja das auch noch nicht formuliert. Es muss nur ein Sozialdemokrat irgendetwas in diese Richtung sagen und schon heißt es: Die SPD fordert... Die Abschaffung der Privatversicherung ist übrigens verfassungsrechtlich kaum möglich, weil die angesparten Einlagen eines jeden Mitglieds einen eigentumsgleichen Status besitzen. Ich glaube auch, dass wir derzeit in der Sozialpolitik vor wichtigeren Herausforderungen stehen, als über einen mehr als zweifelhaften Systemwechsel in der Krankenversicherung zu debattieren. Derjenige, der sein Leben lang hart gearbeitet hat, aber durch einen geringen Verdienst nur eine kleine Rente bezieht, darf nicht so behandelt werden kann wie jemand, der überhaupt nicht gearbeitet hat. Für diese Menschen muss eine Lösung gefunden werden. Wir müssen die Erwerbsunfähigkeitsrente verbessern. Wenn das Renteneinstiegsalter in einem Jahrzehnt bei 67 Jahren liegt, ist doch klar, dass nicht jeder so lange wird arbeiten können. Diesen Menschen muss geholfen werden. In der Pflege fehlen Zehntausende von Pflegekräfte. Das sind die Themen, die in der Sozialpolitik dringend angepackt werden müssen. Daneben müssen die Bürger auch steuerlich entlastet werden.
Wie weit kann eine Partei wie die Union in Koalitionsverhandlungen gehen, ohne ihr Profil oder Charakter zu gefährden?
Kauder: Koalitionsverhandlungen sind immer Kompromissveranstaltungen. Es gibt aber Punkte, wo eine Partei sagen können muss: Über diese Hürde können wir nicht springen. Dazu gehört für uns der Bereich Flüchtlingspolitik. Wir haben uns in der Union auf das Regelwerk zur Migration verständigt. Das gibt eine sehr gute Antwort auf die große Herausforderung der Migration, die wir auch umsetzen wollen.
Die Innenminister der Länder wollen in der kommenden Woche darüber reden, ob abgelehnte Asylbewerber nach Syrien abgeschoben werden. Sind Abschiebungen nach Syrien für sie diskussionswürdig?
Kauder: Zum jetzigen Zeitpunkt ist das für mich angesichts der Sicherheitslage kein Thema. Natürlich muss man die Situation immer wieder neu bewerten.
Sie hatten in den Jamaika-Verhandlungen mit den Grünen einen weitreichenden Kompromiss zur Einstufung weiterer Staaten als sichere Herkunftsländer erreicht. Können die Grünen hinter diesen zurückgehen? Und werden Sie sie daran erinnern?
Kauder: Man muss fair bleiben. Richtig ist, dass die Grünen sich auch hier bewegt hatten, aber es war nichts geeinigt, weil eben noch nicht alle Punkte geklärt waren. Wir werden darüber nun auch mit der SPD sprechen, dann aber sicher auf die Grünen wieder zugehen, schon wegen des Bundesrats. Wir haben mit den Grünen trotz des Scheiterns von Jamaika jetzt eine ganz andere Gesprächsbasis.
Wäre das nicht eine Grundlage dafür, doch eine Minderheitsregierung zu versuchen?
Kauder: Die Union hat die SPD attackiert, als sich diese nach der Wahl schnurstracks in die Opposition verabschiedet hat. Jetzt, wo sich die SPD bewegt und diskutiert, sich doch an einer Regierung zu beteiligen, können wir doch nun nicht anfangen, über eine Minderheitsregierung zu reden, zumal diese höchst problematisch wäre. Wir wollen redlich mit der SPD sprechen, ob eine Regierungsbildung möglich ist. In diesem Geist sind die Parteivorsitzenden nach dem Gespräch mit Bundespräsident Steinmeier am Donnerstagabend auseinandergegangen. Ich hoffe, dass die SPD-Führung den Parteitag überzeugen kann.
Hat der Landwirtschaftsminister mit seinem Ja zu Glyphosat der Sache einen dauerhaften Schaden zugefügt?
Kauder: Man wird schwerlich sagen können, dass er die Stimmung in der SPD gefördert hat. Die Sache hat sich aber schon beruhigt.
War das Verhalten des Landwirtschaftsministers ein Zeichen, dass diese geschäftsführende Bundesregierung in Auflösung begriffen ist?
Kauder: Nein, aber man muss Verfahrens-Regeln beachten. Deren Einhalten trägt immer zur Vertrauensbildung bei. Für mich zeigt der Fall etwas anders: Die EU wartet in vielen Fragen auf Deutschland, arbeitet aber dennoch weiter. Und wir machen gerade als Land einen etwas unsortierten Eindruck. Das ist fatal. Auch deshalb muss es zur Regierungsbildung kommen.
Der Preis einer abermaligen Sondierung könnte sein, dass mancher den Eindruck gewinnt, die Union als Partei verwässere weiter ihr Profil. Muss das Profil der CDU nicht schärfer gezeichnet werden als in den letzten vier Jahren?
Kauder: Die Union hat in ihrem Regierungsprogramm deutlich gezeigt, welche Ideen sie für das Land hat. CDU und CSU sind aber klassische Regierungsparteien. Wir sind von daher weniger als andere ideologisch und haben verinnerlicht, dass man in der Politik auf aktuelle Herausforderungen rasch reagieren können muss, ohne sich durch lange interne Parteidebatten zu lähmen. Dennoch muss man sich seiner Identität bewusst bleiben. Ich gehöre zu der Gruppe jener, die sagen, wir müssen uns stärker auf das „C“ besinnen. Wir sind die christlichen Demokraten. Politik auf der Grundlage des christlichen Menschenbildes ist unser Leitbild. Der Mensch ist danach zur Freiheit berufen, aber auch zur Solidarität mit seinen Mitmenschen. Die Gesellschaft mag säkularer sein als vor 50 Jahren, aber die christlichen Werte werden gleichwohl von den meisten Menschen akzeptiert.
Profilierung hat auch etwas mit jenen zu tun, die ein Profil verkörpern. Gehört zur Profilierung der CDU, dass Angela Merkel in den nächsten vier Jahren auch dafür sorgen muss, die Zeit nach ihr personell vorzubereiten?
Kauder: Natürlich muss darüber nachgedacht werden. Und wir werden darüber zur gegebenen Zeit reden. Aber ich bin dagegen, jetzt alles gleichzeitig zu tun. Derzeit ist die Regierungsbildung unser Thema.
In den sozialen Netzwerken fordern gerade jüngere Parteimitglieder, dass Angela Merkel den Weg für neue Kräfte freimacht.
Kauder: Die Stimmung in der Partei ist ganz überwiegend anders. Auch die Bundesbürger wünschen sich in ihrer Mehrheit, dass Angela Merkel die Regierung führt.
Hat sich die Stimmung im Bundestag mit der AfD und der FDP eigentlich verändert?
Kauder: Schon in den ersten Debatten wurde deutlich: Die AfD nimmt es mit den Fakten nicht immer so genau. Wenn das so weitergeht, muss man das noch stärker thematisieren. Diese Partei baut sich ihre eigene Wirklichkeit. Sie fokussiert sich einzig und allein auf das Flüchtlingsthema und sieht fast in jedem, der eine andere Hautfarbe hat, eine Bedrohung. So eine Haltung hat übrigens, da sind wir wieder beim Thema, nichts mit dem christlichen Menschenbild zu tun. Einen Appell muss ich aber auch an die eigenen Reihen richten: Die anderen Fraktionen und auch wir müssen die Präsenz im Parlament erhöhen. Die Bürger achten schon darauf, ob rechts außen die Reihen gut gefüllt sind, aber nicht bei den anderen Fraktionen.
Die AfD hat die Union aufgefordert, mit ihr über die Aussetzung des Familiennachzugs für Flüchtlinge zu stimmen. Ist das Thema nun für Sie verbrannt, weil es die AfD schneller aufgerufen hat?
Kauder: Wir haben in den Jamaika-Verhandlungen über Wochen intensiv über die Frage des Familiennachzugs verhandelt. So wie es bislang keine inhaltliche Zusammenarbeit mit der Linken gegeben hat, wird es nun keine mit der AfD geben. Diese Partei will die Gesellschaft nicht zusammenführen, sondern spaltet sie. Sie duldet rechtsradikale Aussagen. Da kann es keine inhaltliche Kooperation geben.