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Friedrich Merz

Außenpolitische Grundsatzrede

Körber Global Leaders Dialogue 
23. Januar 2025 12:30 bis 13:40 Uhr 
Hotel de Rome 
Redezeit: 30 Minuten 

- Es gilt das gesprochene Wort -  

Sehr geehrter Herr Paulsen, 
sehr geehrte Frau Müller, 
Exzellenzen, 
sehr geehrte Damen und Herren, 

herzlichen Dank an die Körber-Stiftung für die Ausrichtung dieser Veranstaltung. Ich bin dankbar für die Möglichkeit, im heutigen Rahmen einige grundsätzliche Ausführungen zur aktuellen Außen- und Sicherheitspolitik geben zu können. 

Der Zeitpunkt meiner Rede ist nicht zufällig gewählt. Vor 3 Tagen wurde Donald Trump als 47. Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika vereidigt. In 31 Tagen werden die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes einen neuen Deutschen Bundestag wählen. Und in 32 Tagen jährt sich der Beginn des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine bereits zum dritten Mal. 

Selten war ein Bundestagswahlkampf so stark von der Außen- und Sicherheitspolitik geprägt wie dieser, weshalb ich heute grundsätzlich ins Gespräch kommen will zu den internationalen Herausforderungen unserer Zeit und Deutschlands zukünftiger Rolle in der Welt. 

Insbesondere möchte ich erläutern, was von einer deutschen Bundesregierung unter meiner Führung zu erwarten ist, sofern die Wählerinnen und Wähler meiner Partei und mir hierfür am 23. Februar ein Mandat erteilen sollten. 

[Internationale Standortbestimmung] 

Die Bewältigung großer Herausforderungen verlangt zu-nächst eine klare Standardortbestimmung. Und deshalb will ich in der Beschreibung der Ausgangslage für Deutschland und Europa nichts beschönigen.

Die europäische Sicherheitsarchitektur, wie sie seit dem Fall des Eisernen Vorhangs im 2+4-Vertrag, im Budapester Memorandum, in der Charta von Paris und in der NATO-Russland Grundakte verankert wurde, existiert nicht mehr. Unsere eigene Sicherheit ist nicht nur abstrakt, sondern akut bedroht durch das geographisch größte Land der Erde. 

Der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine ist deshalb für mich mehr als eine Zeitenwende. Dieser Krieg ist, wie der Bundespräsident ihn beschrieb, ein Epochenbruch. Es wird eine der zentralen Aufgaben der nächsten deutschen Bundesregierung sein, dass die europäische Gemeinschaft diesen Epochenbruch nicht nur übersteht, sondern einiger und stärker aus ihm hervorgeht. 
Die Zeit, in der Beobachter eine lineare geohistorische Entwicklung hin zu immer mehr demokratischen Regierungssystemen erkennen wollten, ist zweifelsohne vorbei. Wir erleben eine aufziehende Ära eines neuen Systemkonfliktes zwischen liberalen Demokratien und antiliberalen Autokratien, in der sich unser freiheitliches und demokratisches Lebensmodell im globalen Wettbewerb neu beweisen muss. 

An der Spitze dieser Ära des Systemkonflikts stehen Russland und China. Sie treten offensiv gegen die multilaterale Ordnung an; jene Ordnung, welche die Grundlage für das Zusammenleben der Völker seit Schaffung der Vereinten Nationen und der Bretton-Woods-Institutionen prägen. 

Sie leiten ihre Ansprüche auf Einflusssphären aus Prämissen einer Machtpolitik ab, wie wir sie in Europa hofften, weit in der Geschichte hinter uns gelassen zu haben. International vereinbarte Regeln, Normen und Grundsätze wie das Verbot von Angriffskriegen und das Gebot der friedlichen Konfliktlösung werden nur noch angewandt, wenn es dem eigenen Machtstreben nützt. Wir sind Zeugen einer Erosion der Prinzipien der liberalen, regelbasierten internationalen Ordnung. 

Kein Ereignis verleiht dieser Entwicklung solch starken Ausdruck wie die seit fast elf Jahren andauernde russische Aggression gegen die Ukraine, die seit dem 24. Februar 2022 in einen vollen Angriffskrieg eskaliert ist. Ich bewundere den Freiheitswillen des ukrainischen Volkes, das sich mit solcher Entschiedenheit dem Neo-Imperialismus seines größeren Nachbarn erwehrt. 

Auf russischer Seite ist trotz enormer Verluste an Menschen und Material kein Umdenken erkennbar. Putin hat sein Land auf Kriegswirtschaft umgestellt und rüstet weiter massiv auf. Sein Anspruch wird nicht auf die Ukraine beschränkt bleiben, sondern erstreckt sich gleichermaßen auf die den ganzen Bereich der ehemaligen Sowjetunion. Experten geben uns nur wenige Jahre, bis Russland in der Lage sein wird, auch die NATO konventionell herauszufordern. 

Neben Russland verändert ein aufstrebendes und selbst-bewusstes China die Kräfteverhältnisse insbesondere im Indo-Pazifik, aber auch weit darüber hinaus. In dieser neuen Ära des Systemkonflikts will Peking demonstrieren, dass Autokratie und Staatsdirigismus dem westlichen Modell von Demokratie und Marktwirtschaft überlegen sind. Chinas Führung arbeitet zielstrebig an der Errichtung einer regionalen Vormachtstellung, die den Einfluss Amerikas im Pazifik beendet. 

Das chinesische Ziel einer sogenannten „Wiedervereinigung“ mit Taiwan ist einer der gefährlichsten Konflikte, die der Welt und der internationalen Stabilität schon heute drohen.  

China, Russland, aber auch der Iran, Nordkorea und andere arbeiten nicht isoliert voneinander. Im Gegenteil: Im Laufe der zurückliegenden Dekade hat sich eine Achse der Autokratien herausgebildet, die in allen Regionen der Welt destabilisierenden Einfluss nimmt, den politischen Westen zurückdrängt und krisenhafte Entwicklungen zu ihren Gunsten ausnutzt. Wir sehen uns nicht mehr und nicht weniger als einer revanchistischen, anti-liberalen Achse von Staaten gegenüber, die den Systemwettbewerb mit den liberalen Demokratien offen sucht. 

Diese Achse der Autokratien unterstützt sich untereinander auf vielfältige Weise. Russland wird vom Iran mit Drohnen, von China mit Halbleitern und von Nordkorea mit Truppen und Munition beliefert. Im Gegenzug kooperiert Russland mit dem Iran bis vor kurzem in Syrien, bildet Hamas-Kämpfer aus und liefert billiges Öl und Gas nach China. Nordkorea wird durch Russland und China beim wirtschaftlichen Überleben und seinem militärischen Aufwuchs unterstützt. Wir reden hier nicht über kleinere Unterstützungsmaßnahmen, sondern über das strategische Gleichgewicht: Bald könnten mit nuklearen Sprengköpfen bestückte nordkoreanische Interkontinentalraketen das amerikanische Festland erreichen. 

Wir werden keiner dieser Herausforderungen mit dem derzeitigen Instrumentenkasten unserer Außen- und Sicherheitspolitik erfolgreich begegnen. Wir brauchen einen Politikwechsel auch in der Außen- und Sicherheitspolitik, um unsere Interessen und Werte in diesem Epochenbruch effektiv durchsetzen zu können. Diesen Politikwechsel wird eine Bundesregierung unter meiner Führung in drei Schritten vollziehen: 

  • Erstens: Wir werden die volle außen-, sicherheits- und europapolitische Handlungsfähigkeit Deutschlands wiederherstellen. 
  • Zweitens: Wir werden das Vertrauen bei unseren Partnern und Verbündeten in der Welt zurückgewinnen. 
  • Drittens: Wir werden strategische Prioritäten bestimmen und diese konsequent umsetzen.

[Handlungsfähigkeit wiederherstellen] 

Lassen Sie mich beginnen mit der Wiederherstellung der eigenen Handlungsfähigkeit. Sie beginnt mit der Beendigung des permanenten öffentlichen Streits der Regierung. Es ist die Aufgabe des Bundeskanzlers, sicherzustellen, dass Meinungsverschiedenheiten in seinem Kabinett intern ausgetragen und Entscheidungen dann gemeinsam nach außen vertreten werden. 

Der öffentliche Streit der vergangenen Jahre hat dazu geführt, dass weder unsere Partner noch unsere Widersacher wussten, wo Deutschland an den Weggabelungen internationaler Politik steht. Diese Unklarheit in unseren Positionen wird sich unter meiner Führung nicht wiederholen. Klarheit in den Positionen ist nicht nur eine Frage der Wahrnehmung unserer eigenen Interessen, sondern auch Teil unserer Verantwortung als stärkste Volkswirtschaft Europas und als größtes Mitgliedsland der Europäischen Union. 

Entscheidend für die Beendigung des öffentlichen Streits ist der Umgang und Stil im Kabinett. Doch nicht minder wichtig sind leistungsfähige Mechanismen und Strukturen, in denen Deutschland außenpolitische Positionen sucht, findet und umsetzt. 

Die letzte grundlegende Änderung unserer Entscheidungsstrukturen war die Gründung des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit im Jahr 1961 und die Umwandlung des Bundesministeriums für Angelegenheit des Bundesverteidigungsrates zu einem  Kabinettsausschuss im Jahr 1969. Eine substanzielle Anpassung der Architektur unserer Außen- und Sicherheitspolitik liegt somit ganze 55 Jahre zurück. 

Wir müssen anerkennen: Die Strukturen aus den 60er Jahren sind nicht mehr leistungsfähig genug, um den komplexen Anforderungen unserer Zeit gerecht zu werden. Die Vielschichtigkeit und Verflechtung der Herausforderungen für die innere und äußere Sicherheit der Bundesrepublik Deutschland ist heute eine gänzlich andere als vor fünf Jahrzehnten. Krisenhafte Entwicklungen treten heute in enormer Häufigkeit und Rasanz auf. Und schließlich erfordert die internationale Lage von uns eine ganz andere Bereitschaft zur Übernahme von mehr Verantwortung in der Welt. 

Aus all diesen Gründen werden wir einen Nationalen Sicherheitsrat im Bundeskanzleramt einrichten. Dem Rat werden die mit innerer und äußerer Sicherheit befassten Minister der Bundesregierung, Vertreter der Bundesländer sowie die wichtigsten Sicherheitsbehörden angehören. 

Der Nationale Sicherheitsrat wird der Dreh- und Angelpunkt für die kollektive politische Entscheidungsfindung der Bundesregierung in allen wesentlichen Fragen der Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Europapolitik sein. Zu jeder grundsätzlichen Frage wird die Bundesregierung eine gemeinsame Linie finden und diese dann auch gemeinschaftlich vertreten. 

Die Zeiten, in denen europäische Partner aus Berlin unter-schiedliche und sich widersprechende Antworten bekommen haben – je nachdem, ob sie im Kanzleramt, im Auswärtigen Amt oder im Finanzministerium angerufen haben – müssen der Vergangenheit angehören. 

Darüber hinaus wird der Nationale Sicherheitsrat der Ort sein für die Entwicklung einer strategischen Kultur in der  Außen-, Sicherheits-, Entwicklungs- und Europapolitik. Wir werden dabei mehr Gebrauch machen von der Expertise in den Stiftungen, Denkfabriken und Universitäten in unserem Land. Dazu gehört auch, dass eine unionsgeführte Bundesregierung Gelder bereitstellen wird für die Einrichtung von sicherheitspolitischen Lehrstühlen an unseren Universitäten. 

Schließlich wird der Nationale Sicherheitsrat auch in Krisenlagen alle relevanten Informationen der Bundesregierung zusammenführen, um ein möglichst umfangreiches und gemeinsames Lagebild zu schaffen. 

Zur Anpassung der Entscheidungsmechanismen in der Bundesregierung zählt auch die Verbesserung der europapolitischen Koordinierung. In den vergangenen 3 Jahren ist in den europäischen Institutionen die Stimmenthaltung zur Regel geworden – in Brüssel ist wieder  vom „German Vote“ die Rede. Diese europapolitische Sprachlosigkeit würde ich beenden. 

Deutschland trägt Verantwortung nicht nur für seine eigenen Interessen, sondern für den Zusammenhalt in ganz Europa. Wenn Deutschland schweigt, missachten wir nicht nur unsere eigenen Interessen, sondern schaden auch der Handlungsfähigkeit der gesamten Gemeinschaft. Das Bundeskanzleramt wird sich deshalb bei den wesentlichen europapolitischen Fragen künftig wieder stärker engagieren. 

Ich werde von jedem Kabinettsmitglied erwarten, regelmäßig an den Ministerräten in Brüssel teilzunehmen, und dies durch meinen Chef des Bundeskanzleramts auch nachhalten. Darüber hinaus werde ich für die Union niemanden zum Minister oder Staatssekretär ernennen, der nicht wenigstens alltagstaugliches Englisch spricht.  

Zur Wiederherstellung der außenpolitischen Handlungsfähigkeit Deutschlands zählt auch eine grundsätzliche Reform der Entwicklungszusammenarbeit. Unser christliches Menschenbild gebietet es, dass wir den Ärmsten und Schwächsten auf der Welt helfen. 

Vor allem aber müssen wir Entwicklungspolitik auch als Instrument zur Förderung unserer strategischen Interessen in der Welt begreifen. Deshalb werden wir unsere Entwicklungspolitik künftig konditionieren. Die Unterbindung illegaler Migration, die Bekämpfung von Terrorismus, die Zurückdrängung des geopolitischen Einflusses der Achse der Autokratien, die Zurückdrängung von Korruption und die Förderung von Absatzmärkten für deutsche Unternehmen werden unsere neuen Maßstäbe sein. 

Um es ganz deutlich zu sagen: Ein Land, das seine ausreisepflichtigen Staatsangehörigen nicht zurücknimmt, kann künftig keine Entwicklungsgelder mehr erhalten.   

Wenn ein Land ein zwiespältiges Verhältnis zum Terrorismus hat, wird es keine Entwicklungsgelder mehr erhalten. Und Entwicklungshilfeprojekte werden künftig grundsätzlich von deutschen Firmen und Unternehmen ausgeführt werden. 
Entwicklungszusammenarbeit darf künftig nicht mehr als Solitär in der Bundesregierung stehen, losgelöst von unseren übergreifenden außen- und sicherheitspolitischen Zielen. 

Entwicklungszusammenarbeit muss integraler Bestandteil einer vor allem von unseren Interessen geleiteten Außen- und Wirtschaftspolitik werden. 

Bei alledem will ich unterstreichen: Afrika ist für uns ein Chancenkontinent – mit seiner jungen Bevölkerung, seinem Wachstumspotenzial und der reichen Kultur und Ge-schichte. Wir sollten, trotz der Rückschläge im Sahel und  dem stockenden Prozess in Libyen, nicht nachlassen und unsere Anstrengungen nicht einstellen, sondern uns mit neuer Energie diesem für die Welt so wichtigen, des am schnellsten wachsenden Kontinents der Welt zuzuwenden. 

[Vertrauen zurückgewinnen] 

Nach der Wiederherstellung der eigenen Handlungsfähigkeit wird sich eine Bundesregierung unter meiner Führung der Rückgewinnung des verlorengegangenen Vertrauens bei unseren Partnern und Verbündeten widmen. 

In den zurückliegenden Jahren ist der Eindruck entstanden, dass wir außenpolitische Prinzipien auf dem Altar der innenpolitischen Auseinandersetzung opfern. Zögern, Zaudern und Taktieren sind an die Stelle von Klarheit und Verlässlichkeit getreten. Die oberste Maxime einer unionsgeführten Bundesregierung wird deshalb sein: Auf Deutschland ist wieder Verlass. Wir halten Wort. Wir treffen Entscheidungen – und wenn eine Entscheidung getroffen ist, dann bleiben wir dabei. Unsere Partner und Verbündeten können sich künftig wieder auf uns verlassen. 

Am dringlichsten ist die Reparatur unserer Beziehungen zu unseren beiden wichtigsten Nachbarn in Europa: zu Polen und zu Frankreich. 

Eine von mit Bundesregierung wird die Sprachlosigkeit zwischen Berlin und Warschau von Tag 1 an beenden. Wir werden unseren Nachbarn im Osten respektvoll und mit dem Blick auf unsere wechselhafte Geschichte mit Empathie begegnen. Und noch mehr: Wir bitten Polen da-rum, im Rahmen seiner Ratspräsidentschaft weiter Führung in und für Europa zu übernehmen. Ich freue mich, dass Polen vor wenigen Tagen seine neue Botschaft  „Unter den Linden“ eingeweiht hat – denn hier gehören unsere bilateralen Beziehungen hin: in das politische Herz unserer Hauptstadt. 

Am 17. Juni 1991 unterzeichneten Bundeskanzler Kohl und Ministerpräsident Bielecki den deutsch-polnischen Nachbarschaftsvertrag. Ich schlage vor, dass wir anlässlich seines 35. Jahrestags einen deutsch-polnischen Freundschaftsvertrag unterzeichnen, der unsere bilateralen Beziehungen auf ein neues Niveau hebt. 

Auch unsere Beziehungen zu Frankreich werden wir in eine Phase der Erneuerung und Vertiefung führen. Dass Deutschland und Frankreich im Europäischen Rat derzeit zum Teil grundlegend unterschiedliche Positionen vertreten, muss der Vergangenheit angehören. Ich bin fest entschlossen, die verbleibenden zwei Jahre der Amtszeit von Präsident Macron zu nutzen, um gemein-sam mit ihm die Vision eines souveränen Europas zu verwirklichen. Am ersten Tag meiner Amtszeit als Bundeskanzler werde ich nach Warschau und nach Paris reisen, um mit Ministerpräsident Donald Tusk und mit Präsident Emmanuel Macron konkrete gemeinsame Initiativen zu vereinbaren. 

Eine von mir Bundesregierung wird auch unsere Beziehungen zu Israel festigen. Ich werde das faktische Exportembargo der amtierenden Bundesregierung umgehend beenden. Künftig wird gelten: Was Israel zur Ausübung seines Selbstverteidigungsrechts benötigt, wird Israel auch bekommen. Der Begriff „Staatsräson“ wird sich wieder an Taten und nicht nur an Worten messen. Es muss wieder unmissverständlich klar werden: Deutschland steht nicht zwischen den Stühlen, sondern Deutschland steht fest an der Seite Israels. Daran wird es künftig keinerlei Zweifel mehr geben. 

Verlässlichkeit bei unseren Partnern zurückzugewinnen gilt für größere wie für mittlere und kleinere Staaten gleichermaßen. Mein Bild von erfolgreicher deutscher Europapolitik ist geprägt von meiner Zeit als Abgeordneter im Europäischen Parlament und dem europapolitischen Vermächtnis von Helmut Kohl: 

Eine der wesentlichen Stärken Deutschlands in Europa war es stets, auch mittlere und kleinere Mitgliedstaaten einzubeziehen und in Brüssel als Sprachrohr ihrer Interessen zu wirken. Zu dieser guten europapolitischen Tradition Deutschlands werde ich zurückkehren. 

Auch unsere Partner im Indo-Pazifik brauchen ein Signal, dass unsere Präsenz vor Ort nicht mit der gelegentlichen Durchfahrt einer Fregatte erschöpft ist. Japan, Indien, Australien, Neuseeland: Unsere Verbündeten in dieser geostrategisch zentralen Region müssen wissen, dass wir aktiv zu Stabilität und Freiheit in der Region beitragen wollen. Deshalb rege ich an eine dauerhafte europäische Marinebasis im Indo-Pazifik zu errichten. Lassen Sie uns gleich in der Diskussion noch etwas stärker auf China eingehen. 

Wir müssen uns als Land auch stärker der arabischen Halbinsel und den Golf-Staaten widmen. Sie suchen den Kontakt zu Deutschland und fühlen sich politisch nicht ausreichend wahrgenommen. Ich höre immer wieder von Investitionsvorhaben, die mangels politischen Interesses in Berlin nicht zustande kommen. Ich will, dass wir zu einer aktiveren Diplomatie mit den arabischen Staaten kommen. Dazu zählt das Bemühen, die Abraham Accords regional auszuweiten. Dazu zählen auch neue Partnerschaften in den Bereichen Energie, Technologie und Investitionen im umfassenden Sinne. 

[Strategische Prioritäten] 

Meine Damen und Herren, ich will zum dritten Schritt nach Übernahme der Amtsgeschäfte durch eine unionsgeführte Bundesregierung kommen: die Bestimmung und schließlich auch konsequente Umsetzung von strategischen Prioritäten. 

Die Wahrheit ist: derzeit setzt Deutschland keine strategischen Prioritäten. Die Nationale Sicherheitsstrategie der ausscheidenden Regierung bringt das in jeder Zeile zum Ausdruck und ist weit hinter den Notwendigkeiten zu-rückgeblieben. Wir sind für alles Gute in der Welt: Multilateralismus, die regelbasierte internationale Ordnung, das Ende des Hungers, die Erreichung der Nachhaltigkeitsziele, die Reform der Vereinten Nationen und so weiter. 

Alle diese Ziele sind richtig. Doch wenn sie nicht in eine prioritäre Reihenfolge gesetzt werden, dann werden wir mit unseren begrenzten diplomatischen, finanziellen und militärischen Mitteln keines davon erreichen. Eine Nationale Sicherheitsstrategie muss in einem Dreischritt zunächst Prioritäten definieren, dann eine realistische Bestandsaufnahme unserer Ressourcen vornehmen und daraus folgend konkrete Maßnahmen ableiten. Wir werden dem Nationalen Sicherheitsrat die Federführung für die Erstellung einer neuen Nationalen Sicherheitsstrategie übertragen. Ich will im ersten Jahr einer unionsgeführten Bundesregierung eine neue Nationale Sicherheitsstrategie vorlegen, die den Herausforderungen unserer Zeit tatsächlich Rechnung trägt, Prioritäten ordnet, unsere Ressourcen realistisch beschreibt und an-schließend mit konkreten Handlungen hinterlegt, die für die gesamte Bundesregierung gelten. 

Aus meiner Sicht sind unsere drei strategischen Prioritäten: 

  • Erstens: Die Wiederherstellung der Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit. 
  • Zweitens: Die Stärkung der nationalen Handlungsfähigkeit und der europäischen Souveränität. 
  • Drittens: Die Beendigung des russischen Krieges gegen die Ukraine. 

Unsere wohl vorrangigste strategische Priorität ist die Wiederherstellung von Abschreckungs- und Verteidigungsfähigkeit. Das maßgebliche Leitmotiv muss sein: 

Wir wollen uns verteidigen können, 
um uns nicht verteidigen zu müssen. 

Eine Investition in unsere Gesamtverteidigung ist die entscheidende Investition in die Bewahrung unserer Freiheit und des Friedens in Europa. 

Denn: Die wichtigste Lehre aus der jüngeren europäischen Geschichte ist: Stärke schreckt Aggressoren ab, Schwäche lädt Aggressoren ein. Ich will, dass Deutschland und Europa stark sind, mit starken Streitkräften, mit starker Zivilverteidigung und mit einer resilienten Infrastruktur.   

Anfang Februar treffen sich die europäischen Staats- und Regierungschefs, um über die Verteidigungszusammenarbeit zu beraten. Der neue Verteidigungskommissar Kubilius hat den Vorschlag eines europäischen Verteidigungsfonds unterbreitet. Im Gespräch ist ein dreistelliger Milliardenbetrag, der entweder durch Einzahlung seitens der Mitgliedstaaten oder über die Aufnahme gemeinsamer Schulden am Kapitalmarkt generiert werden soll. 

Zweifelsohne gibt es großen Bedarf bei der Neuaufstellung der europäischen Verteidigung. Der Erhalt und Aus-bau einer eigenständigen Verteidigungsindustrie liegt im strategischen Interesse Europas, denn wir müssen selbst in der Lage sein, uns zu verteidigen. 

Doch ich habe Zweifel, ob den zugrundeliegenden Ursachen unserer mangelnden Verteidigungsfähigkeit allein mit mehr Geld beizukommen ist. Bevor Geld tatsächlich einen Effekt erzeugen kann, brauchen wir eine grundlegende Reform der europäischen und nationalen militärischen Beschaffung. Aus meiner Sicht müssen hierfür die „3 S“ im Mittelpunkt stehen: 

  • Simplification, 
  • Standardization und 
  • Scale. 

Die europäischen NATO-Staaten entwickeln, produzieren und unterhalten insgesamt 178 Waffensysteme, die Ver-einigten Staaten lediglich 30. Europa hat allein 17 verschiedene Kampfpanzer und 29 verschiedene Typen von Fregatten und Zerstörern. Diese Redundanzen kosten viel Geld und verschwenden Potenzial. Ich will, dass „Made in Europe“ in Qualität und Quantität an die Verteidigungsindustrie der USA herankommt. 

Bevor wir uns nicht der Vereinfachung, der Standardisierung und der Skalierung widmen, halte ich neue mitgliedstaatlich finanzierte Fonds oder gar gemeinschaftliche Schulden für nicht zielführend. Kurzum: Wir brauchen einen echten europäischen Binnenmarkt für Verteidigungsgüter. 

Ich möchte zu einer weiteren strategischen Priorität kommen: der Beendigung des russischen Angriffskrieges gegen die Ukraine

Lassen Sie mich zunächst feststellen: Wir alle wollen Frieden. Ich kenne jedenfalls niemanden, der diesen Willen nicht teilt. In Deutschland ist es nicht strittig, dass wir Frieden wollen. Unsere politische Auseinandersetzung dreht sich um zwei ganz andere Fragen. Erstens: Was für einen Frieden wollen wir? Und zweitens: Was müssen wir dafür tun, um den Frieden in Europa wiederherzustellen? 

Lassen Sie mich mit der ersten Frage beginnen. Was für einen Frieden wollen wir? Der Frieden, den wir anstreben, ist ein Frieden in Sicherheit und in Freiheit. 

Wir wollen keinen Frieden um den Preis der Unterwerfung unter eine imperialistische Macht. Wir wollen keinen Frieden auf Kosten unserer Freiheit. Nein, wir wollen einen Frieden in Freiheit und Sicherheit, der es uns ermöglicht, unsere Art des Lebens, unsere Demokratie, unsere liberale Gesellschaft fortzuführen. 

Für die Ukraine lautet nach meiner Einschätzung die wichtigste Antwort: Sie muss den Krieg gewinnen und Russland muss den Krieg verlieren. Gewinnen heißt für mich die Wiederherstellung der territorialen Integrität mit einer in Ausübung eigener staatlicher Souveränität demokratisch legitimierten Regierung. 

Gewinnen heißt auch, dass die Ukraine die vollständige Freiheit zur Wahl ihrer politischen und gegebenenfalls auch militärischen Bündnisse haben muss. So wurde es ihr in der Charta von Paris 1990 noch von der Sowjetunion und im Budapester Memorandum 1994 von Russland zu-gesichert. Nur deshalb hat die Ukraine damals auf ihr großes nukleares Waffenarsenal verzichtet, es ist zum Teil verschrottet und zum großen Teil an Russland übergeben worden. Diese Abrüstung bezahlt die Ukraine heute mit  einem Krieg, der auf ihre Existenz als selbständiger Staat gerichtet ist. 

Russland darf für sich keine Chancen mehr sehen, diesen Krieg militärisch erfolgreich fortzusetzen. Das setzt voraus, dass die Ukraine stark genug ist, sich gegen diese russische Aggression wirksam zu verteidigen. 

Und, meine Damen und Herren, so klar dies ist, so klar muss es auch bleiben: Deutschland darf bei alledem nicht Kriegspartei werden. Aber gerade deswegen müssen wir die Ukraine mit allen erforderlichen diplomatischen, finanziellen, humanitären und eben auch militärischen Mitteln unterstützen, die sie zur Ausübung ihres Selbstverteidigungsrechtes benötigt. 

Ich persönlich bin genau aus diesem Grund der festen Überzeugung, der einzig richtige Weg zu einem Frieden in Freiheit und Sicherheit in der Ukraine ist unsere konsequente weitere Unterstützung. Wir müssen jede Unklarheit über den Weg, den wir gemeinsam gehen wollen, vermeiden. Das habe ich auch Präsident Selenskyi in unserem mittlerweile dritten persönlichen Gespräch am vergangenen Dienstag am Rande des Weltwirtschaftsforums in Davos versichert. 

Meine Damen und Herren, wenn wir über strategische Prioritäten sprechen, so muss ich auch das Stichwort Strategiefähigkeit aufgreifen. Der Mangel an strategischer Kultur ist oft beschrieben worden. Und in der Tat: in zentralen Feldern der Außen- und Sicherheitspolitik hat sich Regierungshandeln hinter etablierten Sprachregelungen verschanzt. Ich will nur zwei Beispiele geben: 

Erstens: der Nahost-Konflikt. Wer nach der Strategie Deutschlands bei der Lösung dieses Konflikts fragt, erhält seit vielen Jahren die gleiche Antwort: Wir wollen eine Zwei-Staaten-Lösung. Doch die Zwei-Staaten-Lösung ist keine Strategie, sondern lediglich die Beschreibung eines Ziels. Wie wir dieses Ziel erreichen wollen, darüber herrscht allgemeine Sprachlosigkeit. 

Zweitens: der Iran. Das Nuklearabkommen mit dem Iran ist gescheitert, weil es anstatt auf Härte auf den guten Willen einer Diktatur gesetzt hat. Deutschland hält weiterhin an dem Atomabkommen fest – aber nicht, weil wir davon überzeugt wären, sondern weil wir keine überzeugende strategische Alternative entwickelt haben. 

Die Zeit des Epochenbruchs ist zu ernst, um uns mit dieser eigenen Strategielosigkeit zufriedenzugeben. Strategiefähigkeit heißt für mich, dass wir in den wesentlichen außen- und sicherheitspolitischen Dossiers endlich zu einer gestaltenden Politik kommen müssen; dass wir von einer schlafenden Mittelmacht zu einer führenden Mittelmacht werden. Auch hierzu wird der Nationale Sicherheitsrat einen Beitrag leisten.  

[Transatlantische Beziehungen] 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, lassen Sie mich abschließend etwas zu unseren Beziehungen zu den Ver-einigten Staaten von Amerika sagen. Um es gleich vor-wegzunehmen: Unser Bündnis zu Amerika war, ist und bleibt von überragender Bedeutung für die Sicherheit, die Freiheit und den Wohlstand in Europa. Ich bin froh, dass die stärkste Volkswirtschaft und die stärkste Militärmacht eine Demokratie und keine Autokratie ist – und wir gemeinsam Mitglieder in einem kollektiven Verteidigungsbündnis sind. 

Es gibt keine zweite Partnerschaft auf der Welt, die von einer solchen Tiefe und Breite an Interessen und Werten geprägt ist wie jene zwischen Deutschland und den Vereinigten Staaten. Dieses Band über den Atlantik hat bisher gehalten, gleich welche Administration im Weißen Haus regiert hat.   

In den vergangenen Wochen habe ich dafür geworben, dass wir angesichts der Amtsübernahme durch Donald Trump nicht wie ein Kaninchen vor der Schlange sitzen, sondern unsere eigenen Hausaufgaben hier in Europa er-ledigen. Wenn wir auf Augenhöhe ernstgenommen werden wollen, dann müssen wir uns als Europäer selbst in die Lage bringen, Verantwortung für unsere Sicherheit zu übernehmen. 

Europa hat 75 Jahre lang vom amerikanischen Beistands-versprechen profitiert. Nun ist es an uns, mehr für unsere eigene Sicherheit und Verteidigung zu leisten. Wir dürfen uns nicht darauf verlassen, dass andere unsere Probleme lösen. Deshalb sehe ich die Präsidentschaft von Donald Trump auch als Chance für eine Selbststärkung Europas. 

Im Bereich der Handelspolitik müssen wir eine Zollspirale vermeiden, die sowohl Europäer als auch Amerikaner ärmer machen würde. Eine unionsgeführte Bundesregierung wird für eine Positivagenda werben, die unsere Wirtschaftsräume noch enger miteinander verzahnt. Heute rächt sich, dass wir TTIP nicht abgeschlossen haben. Wir sollten einen neuen Anlauf für ein transatlantisches Freihandelsabkommen unternehmen, das positiven Nutzen für beide Seiten des Atlantiks schafft. 

Allerdings: Reden zu den transatlantischen Beziehungen verlieren sich meist nostalgisch in der gemeinsamen Ge-schichte des Kalten Krieges: Luftbrücke, Marshall-Plan, Kennedy vor dem Schöneberger Rathaus, Reagan vor dem Brandenburger Tor. Diese historischen Wegmarken sind das Gedächtnis der deutsch-amerikanischen Beziehungen. 

Wir sollten gleichwohl ehrlich miteinander sein. Historische Nostalgie bringt uns in der Gegenwart nicht weiter. Wir müssen unsere Partnerschaft mit Amerika pragmatisch weiterentwickeln, ohne Romantik und dafür mit klarem Blick für unsere eigenen Interessen. 
Dazu zählt, auf gegenseitige Belehrungen zu verzichten. Außenpolitik kann nicht darin bestehen, die Welt nach unseren Maßstäben formen zu wollen. Außenpolitik muss sein, gemeinsame Interessen zu finden, Unter-schiede zu überbrücken und Widersprüche auszuhalten. 

Wir sollten zur Kenntnis nehmen, dass Donald Trump und die republikanische Partei von den amerikanischen Wählerinnen und Wählern mit einem starken Mandat ausgestattet worden sind. Anstatt darüber zu lamentieren, müssen wir uns nun auf die Formulierung unserer eigenen Interessen konzentrieren. 

Zu unseren transatlantischen Beziehungen zählt auch der Südatlantik. Das Freihandelsabkommen zwischen der Europäischen Union und MERCOSUR muss jetzt endlich kommen. Wir können es uns als Europäer weder geostrategisch noch ökonomisch leisten, weitere 7 Jahre über ein Freihandelsabkommen zu diskutieren. Ich werde mich in Brüssel dafür einsetzen, dass es künftig nur noch „EU-only“-Abkommen gibt und auf den Wesenskern beschränkt werden, nämlich die Förderung des Handels.   

In diesem Zusammenhang will ich unterstreichen: Eine strategische Außenwirtschaftspolitik ist viel mehr als reine Zoll- und Handelspolitik. Im Kern muss es um eine deutsche Globalisierungspolitik gehen, die von unseren vielfältigen nationalen Interessen, die häufig auch die Interessen Europas sind, geleitet ist. 

[Schluss] 

Meine sehr geehrten Damen und Herren, selten in der jüngeren Geschichte unseres Landes standen wir vor solch transformativen Umwälzungen wie hier und heute. Doch wir haben alle Chancen, in dieser Zeit des Epochenbruchs nicht nur zu bestehen, sondern als europäische Gemeinschaft noch enger zusammenzurücken. 

Denn wir sind mehr als die Summe von 450 Millionen Europäerinnen und Europäern; wir sind ein Raum gemeinsamer Werte und Interessen, gemeinsamer Ge-schichte und Kultur, tief verankert in demokratischer Tradition und im Grundsatz der Rechtsstaatlichkeit. Diese Gemeinsamkeiten sind die Grundlage dafür, dass Europa seine Freiheit, den Frieden und den Wohlstand auch in dieser Ära der Systemkonkurrenz erfolgreich behaupten wird. 

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit und freue mich nun auf unsere Diskussion.