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Ralph Brinkhaus: „Deutschland ist eins: vieles“

Redebeitrag in der vereinbarten Debatte zu "30 Jahre Deutsche Einheit"

Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Fünf Gedanken zur deutschen Einheit und zu 30 Jahre Wiedervereinigung.

Der erste Gedanke: Freude. Jeder von uns hat irgendwie seine eigene Geschichte mit der Wiedervereinigung. Bei mir ist sie notwendigerweise trivialer als bei anderen. Aber ich erinnere mich noch sehr, sehr gut daran, als ich als 17-Jähriger hier am Reichstag gestanden und auf die Mauer geguckt habe, auf das Brandenburger Tor, das zu war. Wenn mir damals jemand gesagt hätte: „2020 stehst du im Deutschen Bundestag, hältst eine Rede zu 30 Jahre Wiedervereinigung, darfst jeden Morgen am offenen Brandenburger Tor vorbeigehen“, wunderbar, wunderbar! Diese Freude, meine Damen und Herren, müssen wir uns immer wieder in unsere Herzen zurückrufen, müssen wir erhalten. Wer erinnert sich nicht, was er damals am 9. November gemacht hat? Diese Fassungslosigkeit, dieses Staunen auch in der Zeit danach, diese Atemlosigkeit, in der sich alles entwickelt hat, der Stolz am 3. Oktober! Ich war am 9. November in Frankreich. Die Leute dort haben mich beglückwünscht. Die Welt hat sich mit uns gefreut. Das müssen wir doch wieder herholen, anstatt immer kleinteilig, im kleinen Karo darüber zu reden, woran es mangelt und was vielleicht auch falsch gelaufen ist.

(Beifall bei der CDU/CSU und der FDP sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der zweite Gedanke ist Dankbarkeit. Dankbarkeit – das ist mehrfach, auch zu Recht gesagt worden – gegenüber denjenigen, die diese Freiheit erkämpft haben, gegenüber den Männern und Frauen im Herbst 1989 in Ostdeutschland mit großem Mut, nicht wissend, wie das enden würde, nicht wissend, was die Bereitschaftspolizei oder sonst jemand machen würde.

Ich möchte aber auch die nicht vergessen, die schon am 17. Juni 1953 losgelaufen sind.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Diejenigen, die gegen die Niederschlagung des Prager Frühlings demonstriert haben. Diejenigen, die den Wehrdienst verweigert haben. Diejenigen, die versucht haben, die Mauer zu überwinden. Diejenigen, die ihr Leben, ihre Freiheit, ihre Familie, die alles geopfert haben, um irgendwo ein besseres Leben in Demokratie und Glück zu haben. Auch diejenigen haben dazu beigetragen, dass der Herbst 1989 überhaupt möglich war.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich möchte mich auch bei den Politikerinnen und Politikern in Westdeutschland und in Europa bedanken, die nie aufgegeben haben, an die deutsche Einheit zu glauben, als andere die Zweitstaatlichkeit schon akzeptiert hatten. Ich möchte mich insbesondere bedanken – weil ohne die wäre das alles nicht möglich gewesen – bei unseren Freunden aus Polen, von Solidarnosc, und unseren Freunden aus Ungarn.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Ich möchte mich bedanken bei Michail Gorbatschow und im Übrigen auch bei dem damals sowjetischen und heute russischen Volk. Es war nicht selbstverständlich, dass sie das zugelassen haben. Bei aller Kritik, die wir momentan zu Recht an Russland üben: Vergessen wir auch das an der einen oder anderen Stelle nicht.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich möchte mich auch bei George Bush bedanken. Auch ohne die Amerikaner wäre das nicht möglich gewesen, und vielleicht rufen wir uns auch das gerade in diesen Zeiten in Erinnerung.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte mich bei Helmut Kohl bedanken

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP)

und bei den Politikerinnen und Politikern aus Ost und West, die diesen ganz schmalen Spalt, den uns die Geschichte offen gelassen hat, beherzt genutzt haben. Ich bin sehr froh, dass heute einige hier sitzen – ob nun Wolfgang Schäuble, unser Bundestagspräsident, Katharina Landgraf, Eberhard Brecht oder einige andere –, die damals dabei waren und daran mitgewirkt haben, dass diese Einheit entsprechend vollendet werden konnte. Das war sehr, sehr wichtig.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD sowie bei Abgeordneten der FDP, der LINKEN und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Ich möchte mich auch bedanken – das ist in einigen Reden angeklungen, und das ist mir persönlich sehr, sehr wichtig – bei den vergessenen Helden dieser Wiedervereinigung. Nach dem 3. Oktober 1990 fing der Alltag an, und dieser Alltag – das habe ich als jemand aus dem Westen erst spät kapiert – war geprägt von Mühen, Zweifeln, Rückschlägen, von vielen Problemen, ob das nun Arbeitslosigkeit, der Verlust der eigenen Biografie oder auch die Legitimation der Identität war. Ich möchte mich ausdrücklich dafür entschuldigen, dass wir im Westen das vielleicht zu lange nicht gesehen haben.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Was die Menschen, insbesondere auch die Frauen – das ist eben angeklungen –, dort geleistet haben, ist wirklich großartig. Insofern haben wir viel, viel Anlass, zu danken.

Dritter Gedanke: Freiheit. Es war ein Kampf um die Freiheit. Ja, es war auch ein Kampf um die Wiedervereinigung, aber es ging zuerst um Freiheit, um Demokratie und um Gerechtigkeit. Und dieser Kampf ist glücklich ausgegangen; er ist friedlich gewesen. Das ist ein ganz großes Geschenk und muss für uns Verpflichtung sein, an der Seite derjenigen zu stehen, die heute noch für die Freiheit kämpfen, ob in Weißrussland, in Hongkong oder sonst wo. Wer, wenn nicht wir aufgrund unserer Geschichte, sollte an ihrer Seite stehen?

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Es geht auch darum, die Freiheit hier im Innern zu verteidigen. Der Auftrag der Männer und Frauen von 1989 ist, dass wir hier im Deutschen Bundestag diese Freiheit gegen Extremisten jeglicher Farbe und Couleur verteidigen.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und der FDP sowie bei Abgeordneten des BÜNDNISSES 90/DIE GRÜNEN)

Der vierte Gedanke ist Verpflichtung. 1990 war 45 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg. Das ist nicht lange her. Die damals aktive Generation der Politikerinnen und Politiker in Europa war da 55 bis 65 Jahre alt. Sie alle hatten noch die persönliche Erinnerung daran, dass Deutschland Leid und Schrecken über den Rest von Europa gebracht hat. Die damals aktive Generation hatte das alles noch aus eigenem Erleben im Kopf, und trotzdem haben sie uns Deutsche vertraut und gesagt: Ja, wir vertrauen euch, dass ihr diese Wiedervereinigung nicht missbraucht, um noch mal Leid und Schrecken über Europa zu bringen. Sie haben auf das vertraut, was im Grundgesetz steht, wo wir gesagt haben, dass wir im vereinten Europa zum Frieden in dieser Welt beitragen wollen. Dieses Vertrauen haben wir, glaube ich, in den letzten 30 Jahren gerechtfertigt, aber wir müssen es auch weiter rechtfertigen. Deswegen sage ich an die Adresse all derer, die sagen: „Ja, ihr tut ja ein bisschen viel für Europa“: Nein, es ist auch eine Verpflichtung aus 1989, dass wir immer einen Tacken mehr tun als die anderen, weil die anderen uns vertraut haben, und dieses Vertrauen möchten und wollen wir weiter zurückgeben.

(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der FDP)

Ich habe jetzt über Glück, Dankbarkeit, Verpflichtung und Vertrauen sowie Freiheit gesprochen. Zum Schluss – fünfter Punkt – möchte ich noch über eines sprechen, was mehrfach angeklungen ist, nämlich Zusammenhalt, Gemeinschaft. Ja, natürlich spielt die Kategorie „Ost oder West“ für die jungen Leute nicht mehr die Rolle, und ich finde es schön, Yvonne Magwas, dass ein junger Mensch sagt: Ich bin Thüringer. – Natürlich ist der Thüringer anders als der Mecklenburger

(Heiterkeit bei Abgeordneten der CDU/CSU)

und übrigens auch anders als der Franke. Ich komme aus Nordrhein-Westfalen, und meine Kollegen wissen, dass die Westfalen auch anders sind als die Rheinländer.

(Matthias W. Birkwald [DIE LINKE]: Ja!)

Und das ist auch gut so. Einer der Slogans der Feier zur 30-jährigen Wiedervereinigung lautet „Deutschland ist eins: vieles“. Dieses „eins: vieles“ ist auch gut so. Das sollte sich aber nicht an Himmelsrichtungen festmachen. Wir sollten uns diese Unterschiedlichkeit bewahren. Aber wir haben hier im Deutschen Bundestag natürlich die Verpflichtung, für gleichwertige Lebensverhältnisse zu sorgen, und das machen wir auch,

(Enrico Komning [AfD]: Ziemlich erfolglos!)

durch die Förderprogramme, durch den Länderfinanzausgleich und dadurch, dass wir eine aktive Politik machen, aber, wie gesagt, nicht nach Himmelsrichtungen, sondern da, wo es notwendig ist. Wir haben Regionen im Westen und im Osten, die Schwierigkeiten haben. Und wir haben Regionen im Westen und im Osten, wo es großartig läuft. Es ist unsere Aufgabe hier, diese Einheit herzustellen.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie des Abg. Carsten Schneider [Erfurt] [SPD])

Liebe Kolleginnen und Kollegen, es geht aber nicht nur um die materielle Einheit, es geht auch um die innere Einheit. Bei aller Vielfältigkeit, die wir in diesem Land zwischen Jung und Alt und vielleicht auch zwischen Ost und West, Nord und Süd und denen, die dazugekommen sind, und denen, die schon immer hier waren, haben, gibt es einen Ort in Deutschland, wo diese Einheit immer wieder hergestellt werden muss. Und das ist hier, der Deutsche Bundestag. Wir sind die Klammer, die dieses Land verbindet.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD und der FDP und der Abg. Katrin Göring-Eckardt [BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN])

Wenn wir hier polarisieren und spalten: Wer soll dieses Land denn dann zusammenhalten?

(Tino Chrupalla [AfD]: Dann fangen Sie mal an!)

Deswegen erwarte ich von uns eines – da müssen wir uns alle selbstkritisch immer wieder prüfen –: Einheit und innere Einheit haben eine Grundvoraussetzung, und das ist Respekt. Bei allen Unterschiedlichkeiten in der Meinung sollten wir uns nie über den anderen erheben. Wir sollten immer versuchen, auf Augenhöhe die Argumente abzuwägen, zu streiten und darum zu ringen, das Richtige zu tun.

(Beifall bei der CDU/CSU sowie bei Abgeordneten der SPD, der FDP und der LINKEN – Enrico Komning [AfD]: Das machen Sie aber nicht! – Tino Chrupalla [AfD]: Wir erinnern Sie daran!)

Zum Schluss möchte ich eines feststellen: Wir haben die staatliche Einheit am 3. Oktober 1990 zu unserem großen Glück vollendet. Die innere Einheit muss jeden Tag neu errungen und erkämpft werden, und hier ist der Ort dafür, natürlich auch im Land. Vielleicht sollte uns das die Botschaft für 30 Jahre deutsche Wiedervereinigung sein.

(Anhaltender Beifall bei der CDU/CSU – Beifall bei der SPD, der FDP und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)