Gunther Krichbaum: "Wir müssen in Sachen Wettbewerbsfähigkeit deutlich zulegen"
Rede zum Arbeitsprogramm 2020 der Europäischen Kommission
Lieber Herr Kleinwächter, es gab früher – die Älteren werden sich daran erinnern – eine Werbung mit dem HB-Männchen. Wenn ich Ihnen zuhöre, fühle ich mich unweigerlich daran erinnert.
(Michael Grosse-Brömer [CDU/CSU]: Ohne Grund in die Luft gehen!)
Wenn Sie hier von „Spaltung“ reden – Sie werfen der Kommission bzw. Frau von der Leyen Spaltung vor –, kann ich Ihnen nur sagen: Wenn hier einer Europa spaltet, dann sind es die rechtspopulistischen Parteien, die ganze Bevölkerungen, Länder, Gruppierungen gegeneinander ausspielen. Sie setzen auf Hetze. Sie setzen mit ihrer Rhetorik darauf, dass genau das, was Europa vorangebracht hat, nämlich die Friedenssicherung, verspielt wird. Da können Sie nur mit unserem allerentschiedensten Widerstand rechnen.
(Beifall bei der CDU/CSU, der SPD, der FDP, der LINKEN und dem BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)
Meine sehr verehrten Damen und Herren! Frau Präsidentin! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Die Kommission hat ein sehr engagiertes Arbeitsprogramm auf den Tisch gelegt. Es hört sich fast etwas buchhalterisch an, wenn ich Ihnen sage, dass es 43 politische Initiativen, 28 neue legislative Vorhaben und 126 mit Priorität zu behandelnde laufende Gesetzesvorhaben sind.
Damit wird im Übrigen auch sehr schnell die Frage beantwortet, was die deutsche Ratspräsidentschaft – das war kürzlich hier ein Debattengegenstand – ausmachen wird. 90 Prozent dieser Legislativvorhaben werden die Zeit unserer Ratspräsidentschaft ausfüllen. Da steht uns natürlich einiges bevor. Im Stakkato nenne ich die einzelnen Stationen – Kollege Schäfer ist bereits darauf eingegangen –:
Erstens: der europäische Green Deal, CO2-Neutralität bis zum Jahr 2050, gestern auch verbindlich als Ziel endgültig festgeschrieben.
Zweitens: ein Europa im digitalen und für das digitale Zeitalter mit einem Initiativpaket zum Wandel der digitalen Welt, bestehend aus einer Mitteilung zum Weißbuch für künstliche Intelligenz. Eine neue Industriestrategie, insbesondere auch eine neue Mittelstandsstrategie wird dieses Themenfeld ausfüllen.
Drittens: eine Wirtschaft, die im Dienste der Menschen steht. Hier geht es nicht darum, dass die Europäische Kommission die Mindestlöhne in Europa harmonisieren möchte, sondern es geht um die Schaffung und um Vorschläge für gerechte Mindestlöhne – das ist ein großer Unterschied – und den Ausbau der Jugendgarantie. Wir machen uns mitunter zu wenig Gedanken darüber in einem Land, in dem die Jugendarbeitslosigkeit glücklicherweise sehr niedrig ist, eine der niedrigsten in ganz Europa. Das gibt es so in vielen anderen Ländern nicht, vor allem in der südlichen Hemisphäre.
Viertens: ein stärkeres Europa in der Welt. Man möchte eine geopolitische Kommission werden. Hier geht es insbesondere um die Frage der Erweiterung. Hier möchten wir als Europäische Union glaubwürdige Signale in Richtung Albanien und Nordmazedonien senden. Es geht um den freien und fairen Handel, es geht aber auch um die Europäische Nachbarschaftspolitik, um Afrika, ein Kontinent, den wir über Jahrzehnte hinweg sträflich vernachlässigt haben.
Fünftens: die Förderung unserer europäischen Lebensweise, neuer Migrations- und Asylpakt, neue Strategie für eine Sicherheitsunion, Einsatz zum Gesundheitsschutz. Hier geht es insbesondere um Pläne der Krebsbekämpfung und um den Kampf der hybriden Bedrohungen – um das nicht ganz zu vergessen – einschließlich Cybersicherheit.
Sechstens: neuer Schwung für die Demokratie in Europa. Dahinter verbirgt sich das Thema der Rechtsstaatlichkeitskultur. Das ist ein Thema, das uns hier im Deutschen Bundestag übergreifend sehr, sehr wichtig war.
(Beifall bei Abgeordneten der CDU/CSU)
Ja, es ist ein ambitioniertes Programm, aber es gibt auch viele Themen, zu denen das Programm nichts sagt. Zunächst in sicherlich kluger Zurückhaltung wenig zum Thema des sogenannten mehrjährigen Finanzrahmens. Wir sind daran interessiert – müssen dies auch sein –, auch als Deutscher Bundestag, dass der mehrjährige Finanzrahmen bald gelöst wird. Haben wir diesen nämlich bis zum 1. Januar 2021 nicht auf dem Tisch, dann haben wir Abbruchkanten bei bestimmten Positionen, beispielsweise bei Frontex, bei Forschung und Innovation und auch bei Erasmus. Mit anderen Worten: Es fließt dann definitiv kein Geld mehr.
Sicherlich müssen wir uns als Bundestag diesen Themen, was den Zeitplan angeht, noch stärker widmen. Wir stehen aber auch vor der Frage, ob die Aufgaben den Ausgaben folgen oder ob es umgekehrt ist, dass die Ausgaben den Aufgaben folgen müssen. Ich glaube, Letzteres ist richtig. Wir brauchen ein Mehr an Europa. Dieses Mehr an Europa wird nicht mit weniger Geld zu erreichen sein. Das wird nicht funktionieren. Salopp gesprochen: Am Ende kann Europa auch nur den Sprit verfahren, den wir als Mitgliedstaaten ihm in den Tank füllen.
Das heißt, wir müssen uns auch darüber Gedanken machen: Welche Aufgaben sind europäische, und welche sind die richtigen? Das wird sehr schnell deutlich, wenn wir uns gedanklich in die Lage versetzen, wir müssten dieses Europa heute neu erfinden. Wir würden mit Sicherheit nicht mit der Landwirtschaft beginnen. Das war im letzten Jahrhundert, in den 50er-, 60er-Jahren, richtig, aber heute sind es drängende Themen wie Forschung, Entwicklung, Innovation, künstliche Intelligenz. Wie weit wir hier ins Hintertreffen geraten sind, zeigt die bereits in diesem Haus geführte Diskussion um 5G bzw. eine Beteiligung der fernöstlichen Staaten. Allein dass wir die Diskussion führen, zeigt, dass wir in Sachen Wettbewerbsfähigkeit deutlich zulegen müssen. Das heißt, wir müssen hier als Europäer und als nationale Mitgliedstaaten unsere Hausaufgaben machen.
Als letzter Satz sei mir gestattet: Ich hätte gerne noch etwas zum Thema europäische Kultur gehört. Hierzu hat die Europäische Kommission in ihrem Arbeitsprogramm leider keinen einzigen Satz verloren. Das finde ich schade. Vielleicht kann man an dieser Stelle noch einmal nacharbeiten.
Herzlichen Dank.
(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)